Aktuelles
20. Dezember 2022

Die Latenzphase: Ein bio-psychosozialer Übergang

Seit einigen Jahren widmet sich die Hebammenforschung zunehmend dem Übergang von der Schwangerschaft zur Geburt, der so genannten Latenzphase. Eva-Maria Schwaighofer, Lehrgangsleiterin Hebammenwissenschaft, veröffentlichte dazu in der Zeitschrift „Hebamme“ (Thieme-Verlag) einen Artikel, der die Latenzphase als sensiblen Übergang und Dialog zwischen Mutter und Kind beschreibt, der gleichermaßen auf Beziehungs-, neuroendokriner als auch auf körperlicher Ebenen stattfindet.

Bei Paaren, die das erste Mal Eltern werden, ist die Frage nach dem Geburtsbeginn eines der häufigsten Beratungsthemen in der Geburtsvorbereitung. Die Antwort gestaltet sich selten einfach, denn der Geburtsbeginn ist ein physiologisch ausgeklügelter Prozess und zugleich ein Zusammenspiel vieler individueller Faktoren bei Mutter und Kind – und er ist störanfällig.  

Hinter dem von den Medien oft humoristisch dargestellten, linearen und recht mechanistischen Prozess: Blasensprung – Aufschrei – Panik – Presswehen, verbirgt sich eines der Hauptprobleme der Geburtshilfe: Die Ausklammerung hirnphysiologischer, u.a. psychosozialer Faktoren. Der die Geburtshilfe nach wie vor prägende Leib-Seele Dualismus kann der interindividuellen Variabilität, der „unique normalcy“ von Mutterschaft nicht gerecht werden.

Ein Blick in das medizinische Nachschlagewerk „Pschyrembel“ erklärt den Begriff Latenz folgendermaßen: „Latenz, adj. latent (von lateinisch latere ‚verborgen sein‘) steht für […] den Zeitraum zwischen einem verborgenen Ereignis und dem Eintreten einer sichtbaren Reaktion darauf.“

Die Latenzphase vor dem aktiven Geburtsbeginn konfrontiert die Frau und Mutter durch die von fetalem Oxytocin ausgelösten und nicht willentlich zu steuernden Wehen mit dem Ende der Schwangerschaft und der Wirklichkeit des Geburtsschmerzes, der die Trennung der Mutter-Kind-Einheit ankündigt.  Diese Tatsache erfordert zunächst Introspektion und Ruhe. Um sich schließlich auf die Geburt einzulassen, ist subjektive Sicherheit die wichtigste Voraussetzung. Stress beeinträchtigt den Verlauf der Latenzphase, eine vertrauenswürdige und respektvolle Atmosphäre tragen maßgeblich dazu bei, dass sich regelmäßige, aktive Geburtswehen einstellen können.

 „Für das emotionale Erleben der Geburt und vor allem für eine erfolgreiche, bestärkende Transformation der Frau zur Mutter ist nicht die Verallgemeinerung, sondern der Blick auf die individuellen Variationen der Physiologie von Bedeutung.“