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14. Mai 2024

Design für Tugenden, statt für Laster: Ein Blick auf "The Future Designer" von Michael Leube

Michael Leube, Lehrender am Campus Kuchl, hatte vor rund einem Jahrzehnt sein „Erweckungserlebnis“, als er an die FH Salzburg kam: Als Anthropologe stolperte er in die Welt des Designs und erkannte, dass die Disziplin eines der wichtigsten Werkzeuge ist, wenn es um die Lösung unserer dringendsten Probleme geht – sofern sie richtig angewandt wird.

In seinem neuen Buch„The Future Designer – Anthropology Meets Innovation in Search of Sustainable Design“ (Routledge, 2024 ), plädiert er für mehr Menschenkenntnis und Haltung im Design und schlägt eine grundlegende Transformation der Designausbildung vor. Warum wir Ethik nicht den Philosophen überlassen sollten, warum auch der moderne Mensch abergläubig ist und warum Studierende in die Wildnis müssen, erzählt er uns im Interview.

Lieber Michael, worum geht es in deinem Buch?

In seinem Kern ist das Buch eine Empörung. Ich bin entsetzt darüber, wie kraftvoll gutes Design als Instrument für den Wandel ist, und wie oft es dennoch falsch verwendet wird. Der Aufbau ist autobiografisch und beschreibt die intellektuelle Reise, die ich in den letzten 30 Jahren durchgemacht habe. Ich habe Anthropologie bis zum Doktorat studiert und dann 10 Jahre lang unterrichtet. Ich bin eher durch Zufall in die Welt des Designs gestolpert. Günter Grall, Studiengangsleiter von Design und Produktmanagement, hat mich bei einem Vortrag gesehen und mich eingeladen, eine Vorlesung zu übernehmen. Das habe ich gemacht und 2013 wurde ich Vollzeitprofessor an der FH Salzburg, am Campus Kuchl, was ich bis 2018 war.

Dort begann eine steile Lernkurve für mich: Ich habe gelernt wie ein Designer zu sprechen und zu denken und habe in der Disziplin gleichzeitig viel Oberflächlichkeit und Versäumnisse gesehen. Das Design muss den Menschen verstehen, wenn es für den Menschen sein soll, und genau diese Wissenschaft ist eben die Anthropologie. In meinem Buch komme ich zu einer Synthese meiner Erfahrungen in Anthropologie und Design und forme daraus eine konstruktive Kritik. Ich beschreibe ein neues Curriculum für Designstudiengänge.

Für wen hast du das Buch geschrieben?

Es ist ein populärwissenschaftliches Buch, in dem ich versucht habe, komplexe Sachverhalte verständlich zu machen. Ich sehe die Gestaltung von Dingen, sei es ein Industrieprodukt, ein Möbel, ein Gebäude, ein Fahrzeug oder auch eine App und eine Dienstleistung, als sehr wirkungsvolles Mittel, um die richtig großen Probleme anzugehen. Deswegen ist das Buch für alle, die etwas gestalten – ich nenne sie im Buch die „Maker“, weil sie buchstäblich unsere Welt machen, und damit enormen Einfluss auf uns haben. Dazu gehören auch Menschen aus Ingenieursstudiengängen, auch sie gestalten letztendlich. Deswegen der Titel „The Future Designer“, der einerseits das Berufsprofil der Gestalter*innen von morgen beschreibt, aber gleichzeitig auch meint, dass diese Menschen buchstäblich unsere Zukunft machen.

Ebenso kann man es lesen, wenn man ein generelles Interesse am Homo sapiens und dessen Beziehung mit den Dingen hat. Vor meiner Reise in die Designwelt habe ich – selbst als Anthropologe – mir nicht diese Fragen gestellt. Nun bin ich sensibilisiert und denke: Wie wurde mein Smartphone produziert? Wie ändert es mein Verhalten? Oder gar das gesamte Sozialverhalten unsere Spezies?

Was ist dir im Schreibprozess besonders klar geworden? Welche großen Narrative hast du entdeckt?

Das Buch ist fraktal aufgebaut und macht verschiedene Erzählstränge auf, die schlussendlich miteinander zusammenhängen. Ein Beispiel: Aus der Anthropologie kennen wir das Konzept des „Animismus“, also, dass Dingen eine Seele zugeschrieben wird. Aborigines verehren den Uluru als heiligen Berg, oder andere Naturvölker sehen in einem Baum eine Seele und bitten ihn vor der Fällung um Erlaubnis. Wir in der „modernen“ Welt wundern uns über dieses Verhalten, dabei haben wir einen ebenso starken Animismus, nur eben bei anderen Dingen. Wir reden mit unseren Smartphones, oder wir schimpfen mit dem Computer, wenn er hängen bleibt. Das ist unser Animismus der Neuzeit. Und dann kommt man auf Descartes, der diesen Dualismus, also die Trennung von Subjekt und Objekt, begründet hat und auf einmal stellt man den gesamten Modernismus in Frage. Die Idee, dass die Menschheit sich immer weiter nach vorne entwickelt und dass es Menschen gibt, die in unseren Augen „primitiv“ sind. Genau diese Zweiteilungen, diese Dichotomien werden in Frage gestellt.

Mir wurde klar, dass Design in Verbindung mit Marketing oftmals eine Art moderne Alchemie ist. In der Alchemie wurde aus einfachen Elementen ein vermeintlicher „Wunderstoff“ kreiert und das Endprodukt effektvoll durch starkes Marketing in Szene gesetzt – aber was eigentlich drinsteckt, ist top secret. Wenn ich Alexa frage ob sie ein bestimmtes Lied abspielt, oder ein bestimmtes Produkt kaufe, ist das ein magischer Moment, von dem ich als End User gar nicht wissen soll, was sich hinter den Kulissen und in der Herstellung abspielt. Doch diese Transaktion ist alles andere als magisch, oftmals sogar sehr fragwürdig. Aber sie schafft es, uns zu verzaubern.

Du erwähnst in deinem Buch Konzept der Pro-Sozialität. Was ist das genau?

Modernes Design macht uns a-sozial. Das Smartphone beispielsweise ist eine „Me-Machine“, ein Ding, das uns auf uns selbst zurückwirft und uns von direkter sozialer Interaktion abkoppelt. Viele moderne Produkte, aber auch Architekturen sind so: sie lassen unseren Gemeinschaftssinn verkümmern. Dabei sind wir eine der sozialsten Spezies überhaupt, mit Ameisen oder Bienenvölkern vergleichbar. Erst das hat uns erfolgreich gemacht: Wir haben miteinander kooperiert, um uns über gemeinsame Ressourcennutzung oder den Schutz vor Gefahren abzustimmen. Die Frage lautet für mich: Wie können wir diese Pro-Sozialität wieder lernen, ohne die Fehler des Kommunismus zu wiederholen und nicht in die Falle des individualistischen Konsumkapitalismus zu tappen? Wie können wir wieder das Leben in kleinen Gemeinschaften stärken?

Wie kann gutes Design dazu beitragen?

Wenn ich mich als Anthropologe vorstelle, kommen immer schnell die großen Fragen: Ist der Mensch gut oder schlecht? Funktionieren wir über Tugenden oder Laster? Meine Antwort ist immer: Das kommt auf den Kontext an. Unser Verhalten hängt immer unserem Umfeld ab. Wenn wir das Verhalten des Menschen ändern wollen, so müssen wir sein Umfeld ändern. Und das ist per Definition Design. Nur derzeit werden unsere Laster durch Design oft verstärkt. Uns wird gesagt, dass wir über den Konsum erfolgreich und zu Gewinnern im System werden. Unsere Tugenden werden hingegen stark vernachlässigt. In einem anderen Kontext können wir definitiv nachhaltig, altruistisch und pro-sozial sein. Das ist Fakt – denn nur durch Zusammenhalt und Kooperation hat der Mensch die längste Zeit nicht nur überlebt, sondern als Spezies floriert. Gutes Design kann wie kaum ein anderes Mittel diese Tugenden wieder hervorbringen. Design darf also nie wertfrei sein, sondern muss eine Haltung haben.

Wie muss sich dazu die Ausbildung ändern?

Ich bin als Dozent viel unterwegs in europäischen Designhochschulen und mache fast immer die gleiche Erfahrung: Ich sehe junge Menschen, die voller Energie sind, in der Welt etwas zu bewegen. Ein richtiger „Maker-Spirit“! Und sie werden in den ersten Semestern ihres Studiums vollgestopft mit Marketing, Softwaretraining, Modellbau, Entrepreneurship – alles wichtige Themen, nur sollten sie später folgen. Zuerst muss systemisches Denken, Ethik, Nachhaltigkeit und das Verständnis des Menschen gelehrt werden. Denn alles, was sie im Laufe des Studiums und natürlich auch in ihrem späteren Berufsleben gestalten, sind Objekte für den Menschen, die unser Verhalten beeinflussen.

Leider sehe ich viele, die nach dem Studium Dinge kreieren, die aus ökologischer und sozialer Sicht höchst fragwürdig sind, nicht kreislauffähig sind, oder einen enorm hohen Ressourcenaufwand haben. Sie machen das nicht, weil sie schlechte Menschen sind – im Gegenteil, sondern weil sie ein veraltetes Curriculum haben, welches nicht die sozialen und ökologischen Krisen von jetzt und in Zukunft berücksichtigt. Am Schluss des Buchs habe ich deswegen eine Art Betriebsanleitung mitgegeben - „7 Ways to think like a 21st Century Designer“.

Wie sähe ein guter Lehrplan deiner Meinung nach aus?

Zwar sehe ich, dass Nachhaltigkeitsthemen in den Curricula langsam ankommen, allerdings viel zu oft nur beiläufig oder zu spät im Studium. Diese Themen müssen das Fundament für alle weiteren Fächer sein. Ich sehe drei große Module, die eine Basis bilden: Im ersten geht es um das systemische Denken. Wie gehen wir im Design damit um, dass in globalen Kontexten alles miteinander zusammenhängt? Wir gestalten Einzelteile, die aber ins große Ganze eingebettet werden müssen. Welche externen Kosten verursacht mein Produkt, wer ist an der Herstellung beteiligt und wo kommt die Energie dafür her? Als zweites Modul muss eine angewandte Ethik vermittelt werden. Ethik muss den Makers beigebracht werden, weil sie meiner Meinung nach größeren Einfluss auf unser Verhalten haben als alle Philosophen. Maker gestalten unsere zukünftige Lebenswelt und gutes Design kann eine Form des effektiven Altruismus sein. Als drittes Modul sehe ich Nachhaltigkeit in verschiedenen Facetten und Denken in langen Zeithorizonten. Wir reden heutzutage viel von Disruption. „Move fast and break things“, wie es ein Silicon Valley Credo beschreibt. Das ist nicht nachhaltig.

Wieso nicht zur Einführung ins Studium ein Design Camp in der Natur, um die absoluten Basics des Designs zu lernen? Also ab in die Wildnis, ohne Smartphone versteht sich, und lernen miteinander zu arbeiten und die temporäre Lebenswelt möglichst intelligent zu gestalten. Es muss ein Lagerplatz eingerichtet werden, der für alle funktioniert. Es muss eine klare Rollenverteilung geben, es müssen ergonomische Kochplätze eingerichtet werden, es müssen Informationen verfügbar gemacht werden. Es müssen Strukturen geschaffen werden, sodass die mitgebrachten Ressourcen gemeinschaftlich genutzt, und Abfälle getrennt oder wiederverwertet werden – all das ist Design, ganz unmittelbar. Und wenn wir in die Menschheitsgeschichte schauen, erkennen wir, dass 99,9 Prozent davon ein archaischer Camping Trip war, mit genau den Konzepten, die wir heute mühsam neu erfinden: Kreislaufwirtschaft, regionale Ressourcennutzung und soziale Kooperation.

Angesichts der Übernutzung von Ressourcen, einer aufgeregten geopolitischen Weltlage, Klimakrise, künstlicher Intelligenz und sozialer Spaltung – Wie blickst du in die Zukunft und wo siehst du uns im Jahr 2050?

Ich denke, dass wir eine Verpflichtung gegenüber der Zukunft haben, genauer gesagt, gegenüber all jenen Menschen, die noch kommen werden. Wir sind deren Ahnen, und uns muss klar sein, dass jedes Design, jedes Produkt, Gebäude etc., welches heute gemacht wird, immer in der Zukunft genutzt wird. Wir gestalten also immer in die Zukunft hinein. Nur leider ist unsere Vorstellung von der Zukunft oftmals sehr düster. Wir sehen Dystopien oder Cyberpunkwelten à la Blade Runner, weil wir lediglich im Stande sind gegenwärtige Entwicklungen in die Zukunft zu projizieren. Dabei unterschätzen wir aber unser Potenzial für das Gute. Pro-soziales Design kann eben eine gute Zukunft schaffen.

Allerdings denke ich, dass 2050 ein zu kurzer Zeithorizont ist, für grundlegende Veränderungen. Ich denke, dass eine komplette Transformation unseres Wirtschaftens und Lebens länger dauern wird. An ein biblisches Armageddon glaube ich nicht – ich weiß, dass wir die Werkzeuge für eine Kehrtwende haben. Und die Menschen, die sie umsetzen können. Für mich sind es alle, die kreativ sind und unsere Zukunft buchstäblich „gestalten“, also die Maker. Wenn wir ihnen beibringen, dass unendliches Wachstum auf diesem Planeten nicht möglich ist, und dass sie eine große Verantwortung und Kraft für das Positive haben, dann können wir es schaffen.